Klinische Bewertung ohne klinische Daten
Anwendung des Artikel 61 (10)
Der Artikel 61(10) der MDR regelt die Möglichkeit, eine klinische Bewertung ohne klinische Daten durchzuführen. In welchen Fällen dies möglich ist und unter welchen Bedingungen dieser Artikel angewendet werden kann, wird im Folgenden erläutert.
Gemäß Artikel 61(10) der Medical Device Regulation (MDR) kann in bestimmten Fällen eine klinische Bewertung ohne klinische Daten durchgeführt werden. Wichtig dabei ist, dass auch bei Anwendung dieses Artikels eine klinische Bewertung erforderlich ist.
Wann ist die Anwendung von Artikel 61(10) möglich?
Bei Anwendung des Artikels 61(10) kann von der Verwendung klinischer Daten zum Nachweis der Konformität mit den grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen abgewichen werden, wenn dies nicht angemessen erscheint. In solchen Fällen muss der Hersteller eine angemessene Begründung vorlegen, die sich stützt auf :
- die Ergebnisse des Risikomanagements und
- die spezifischen Wechselwirkungen zwischen dem Produkt und dem menschlichen Körper,
- die vorgesehene klinische Leistung und
- die Angaben des Herstellers.
Es ist jedoch zu beachten, dass der Artikel 61(10) nicht auf Produkte der Klasse-III oder implantierbare Produkte angewendet werden kann. Diese Einschränkung wird in der MDR durch den Halbsatz „dies gilt unbeschadet des Absatzes 4“ ausgedrückt und auch im MDCG-Dokument 2020-6 klar benannt.
Für alle anderen Produktklassen, also Klasse I bis IIb (ohne Implantate), kann der Artikel 61(10) angewendet werden. Dies sollte jedoch eine Ausnahme darstellen.
Die Entscheidung, den Artikel 61(10) anzuwenden, muss vom Hersteller in der klinischen Bewertung angemessen begründet werden. Diese Begründung sollte auf einer Bewertung der verfügbaren Nachweise gemäß den Anforderungen der MDR beruhen.
Es ist wichtig, zu beachten, dass die Anwendung von Artikel 61(10) sorgfältig geprüft werden sollte. Denn das tut auch die benannte Stelle: Entsprechend dem MDCG-Dokument 2020-13 (Clinical Evaluation Assessment Report) prüfen die benannten Stellen, ob
- eine ausreichende Begründung vorliegt,
- die vorliegende Evidenz, z.B. in Form von Leistungsbewertungen, Prüfstandsversuchen und präklinischen Studien, ausreichend ist,
- nach klinischen Literaturdaten zum Produkt oder einem äquivalenten Produkt gesucht wurde,
- eine Suche und Auswertung klinischer Literaturdaten zu ähnlichen Produkten erfolgte,
- die Ergebnisse des Risikomanagements die Anwendung des Artikels 61(10) unterstützen,
- es ausreichende Informationen zur Interaktion zwischen Produkt und menschlichem Körper gibt,
- ob die vorgesehene Leistung des Produkts es zulässt, sich auf nicht-klinische Daten zu stützen,
- ob es Marketing-Claims gibt, die durch klinische Daten belegt werden müssen.
Beispiele für Medizinprodukte, für die eine Anwendung des Artikels 61(10) gerechtfertigt sein könnte, sind
- Mundspatel
- zahnärztliche Behandlungseinheiten
- Patientenpositionierungssysteme
- Operationsleuchten
- eigenständige Software
- Blutzuckermessgeräte
- Rollstühle
- Gehhilfen
Diesen Produkten ist gemeinsam, dass ihre Anwendung mit nur minimalen Risiken verbunden ist, die oft mit der Gebrauchstauglichkeit zusammenhängen. Der Kontakt mit dem menschlichen Körper ist, falls überhaupt gegeben,unkritisch. Auch ist der klinische Nutzen oft indirekt, indem z.B. eine Diagnose oder Behandlung unterstützt wird.
Entsprechend sind die Parameter zur Bestimmung von Sicherheit und Leistung der Produkte eher technischer Natur. Parameter wie Reproduzierbarkeit der Messung oder Formstabilität (bei vielen Hilfsmitteln) lassen sich im Labor besser prüfen als in der klinischen Anwendung.
Artikel 61(10) lässt sich bei weitem nicht auf alle „einfacheren“ Medizinprodukte anwenden. Sobald z.B. ein direkter klinischer Nutzen vorliegt, ist die Leistung i.d.R. anhand klinischer Daten zu zeigen – so beispielsweise bei UV-Lampen für die Therapie von Hauterkrankungen oder bei Kom;pressionsstrümpfen zur Verbesserung der Blutzirkulation.
Wie können Sicherheit und Leistungsfähigkeit nachgewiesen werden?
Wenn Artikel 61(10) der MDR anwendbar ist, können geeignete Daten für den Nachweis der Sicherheit und Leistung z.B. auf folgende Weise gewonnen werden:
- technische Prüfungen
- präklinische Prüfungen
- Gebrauchstauglichkeitsprüfungen
- Simulationen
Was bedeutet dies für die klinische Bewertung?
Auch bei Anwendung des Artikels 61(10) der MDR bleibt die klinische Bewertung unverzichtbar. Die klinische Bewertung ist ein wichtiger Bestandteil des Konformitätsbewertungsverfahrens gemäß der MDR. Sie umfasst die Bewertung der Sicherheit und der Leistung eines Medizinprodukts bei seiner Anwendung im Rahmen seiner Zweckbestimmung. Wenn für das Produkt kein klinischer Nutzen ausgelobt wird, der anhand klinischer Daten belegt werden muss, kann sich die klinische Bewertung auch überwiegend auf präklinische Daten stützen.
Wichtig ist, dass anhand der vorliegenden Daten eine angemessene Bewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses des Produkts möglich ist.
Fazit
Gemäß Artikel 61(10) der MDR kann eine klinische Bewertung ohne klinische Daten durchgeführt werden, wenn der Hersteller eine angemessene Begründung vorlegt, die auf den Ergebnissen des Risikomanagements, den spezifischen Wechselwirkungen zwischen dem Medizinprodukt und dem menschlichen Körper, der vorgesehenen klinischen Leistung und den vom Hersteller vorgelegten Informationen beruht. Es ist jedoch zu beachten, dass trotz der Anwendung des Artikels 61(10) eine klinische Bewertung unverzichtbar bleibt. Sicherheit und Leistung sind durch andere geeignete Mittel, zum Beispiel durch technische Tests, nachzuweisen.
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Dr. rer. nat. Marion Fehlker
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